Champions League

Frankfurt-Marseille: Die chaotische Wandlung von OM

Eintracht-Gegner hat bewegten Sommer hinter sich

Tränen in der Umkleide: Die chaotische Wandlung von Olympique Marseille

Wollen Eintracht Frankfurt am Dienstag ein Bein stellen: Alexis Sanchez, Igor Tudor und Dimitri Payet.

Wollen Eintracht Frankfurt am Dienstag ein Bein stellen: Alexis Sanchez, Igor Tudor und Dimitri Payet. AFP via Getty Images

Sein erstes Pflichtspiel hatte er noch nicht mal gecoacht, da wurde Igor Tudor von den eigenen Fans schon ausgepfiffen. Kurz vor Saisonstart, Olympique Marseille empfing die AC Mailand zum letzten Testspiel, hagelte es Unmutsbekundungen von den Rängen, als Tudors Name bei der Mannschaftsaufstellung vorgelesen wurde. Und wenn der ein oder andere Spieler an diesem Tag anonym auf der Tribüne gesessen hätte, er hätte wahrscheinlich mitgepfiffen.

In nicht einmal vier Wochen als neuer Trainer hatte Tudor es geschafft, sich derart viele Feinde in der Mannschaft und im Umfeld zu machen, dass die öffentliche Stimmung in der Hafenstadt zum Saisonstart in Richtung Mittelmeergrund tendierte. Dass Tudor den Herbst nicht mehr als Trainer erleben würde, erschien deutlich wahrscheinlicher, als dass OM gut sechs Wochen nach den Testspiel-Pfiffen in der Ligue 1 gleichauf mit Spitzenreiter Paris St. Germain liegen würde. Doch genau das ist passiert.

Der Präsident baute sein Wissen durch "Fußball Manager" auf

Erfolg und Chaos schließen sich beim neunmaligen französischen Meister selten aus. Dafür sorgten in der Vorsaison nicht nur die zahlreichen Verfehlungen der OM-Zuschauer, sondern alleine schon Trainer Jorge Sampaoli. Das 1,67 Meter große Temperamentpaket produzierte mit seinen Ausrastern an der Seitenlinie und markigen Sprüchen in Interviews am laufenden Band Schlagzeilen - aber eben auch Punkte. Sampaoli führte OM zurück in die Champions League, holte in seiner rund 18-monatigen Amtszeit einen besseren Punkteschnitt als Vorgänger wie Didier Deschamps oder Marcelo Bielsa. Und war zum Start der neuen Saison dann plötzlich weg.

In der Sommerpause hatte sich Sampaoli mit Präsident Pablo Longoria überworfen - was schon beim oberflächlichen Blick auf beide Charaktere gar nicht so sehr überrascht. Auf der Bank der pulsierende Vollblut-Trainer, am Hebel der 26 Jahre jüngere Funktionärs-Nerd, der sein Wissen einst durch die "Fußball Manager"-Reihe aufgebaut hatte.

Sampaoli wollte Griezmann und Sanches

Wobei: In Sachen Transfers war eher Sampaoli auf Videospiel-Kurs. So soll sich der Argentinier die Verpflichtungen von Antoine Griezmann und Renato Sanches gewünscht haben, um in der Champions League nicht in die Statistenrolle zu verfallen. Illusorisch für Longoria, der öffentlichkeitswirksam einen "Markt des Wartens" heraufbeschwor - und damit Sampaoli vor den Kopf stieß. "Ich brauchte die neuen Spieler so schnell wie möglich", sagte der Heißsporn zuletzt im brasilianischen TV. "Der Präsident sagte mir, er würde bis zum Ende des Transferfensters warten. Das ist nichts für mich." 

Sprungbrett Ligue 1: Diese Talente stehen vor dem Durchbruch

Anfang Juli stand Longoria also ohne Trainer da - und verpflichtete Tudor. Sampaoli war weg, die Schlagzeilen blieben. Tudor, einst als beinharter Abwehrchef von Juventus Turin bekannt geworden, hat beim Übergang in den Trainerjob nicht gerade die van Bommelsche Wandlung zum kommunikativen Menschenversteher hingelegt. Im Gegenteil. Auf den emotionalen Anarchisten folgte bei OM ein stoischer Feldwebel.

Wegen Tudors Autorität: Dieng weinte in der Kabine

Die Spannung über die strengen Trainingsmethoden und die autoritäre Mannschaftsführung entlud sich bereits nach wenigen Wochen im Trainingslager in England. Zunächst soll sich Tudor mit Mittelfeldregisseur Gerson ein hitziges Tête-à-Tête geliefert haben, noch am selben Tag verbannte er den mittlerweile nach Getafe verliehenen Außenverteidiger Jordan Amavi nach einer Meinungsverschiedenheit aus dem Kader. Beim Testspiel gegen Milan berichteten französische Medien von einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Ex-Herthaner Matteo Guendouzi in der Halbzeit. 

Ganz besonders hart traf es aber Bamba Dieng. Der Edeljoker der vergangenen Saison, immerhin amtierender Afrika-Cup-Sieger, war unter Tudor von Beginn an außen vor, sollte verkauft werden. Der Kroate ließ den jungen Stürmer dessen Unerwünschtheit angeblich so hart spüren lassen, dass dieser mehrfach in der Kabine unter Tränen zusammengebrochen sein soll. Schließlich einigte sich Dieng mit Leeds United, stand am Deadline Day bereits am Flughafen, wo das Handy klingelte und sich Diengs Transferziel kurzfristig änderte. Statt nach Leeds ging der Flug nach Nizza - wo Dieng prompt durch den Medizincheck fiel. Jetzt zählt er weiterhin zum OM-Kader. Mehr aber auch nicht.

Viel vertikaler, viel europäischer.

Präsident Pablo Longoria über das OM-Spiel unter Igor Tudor

Einige Führungsspieler wurden wegen Tudor bereits bei der Vereinsführung vorstellig, die jegliche Ansätze einer Meuterei aber im Keim erstickte. Präsident Longoria ist begeistert davon, dass OM unter Tudor "komplett anders" spiele als unter Sampaoli. "Viel vertikaler, viel europäischer" nannte er den Stil zuletzt auf einer Pressekonferenz. "Wir haben die Mentalität unseres Spiels geändert. Dafür brauchen wir Spieler, die zum System unseres Trainers passen."

Dimitri Payet

Dresscode Aufwärmleibchen: Dimitri Payet hat unter Igor Tudor einen schweren Stand. Icon Sport via Getty Images

Worte, die sich nicht zuletzt auch in Richtung Dimitri Payet richteten. Unter Sampaoli war der Paradiesvogel die zentrale Figur des OM-Spiels, absolvierte die meisten Minuten aller Akteure und kam in der abgelaufenen Saison auf 22 Scorerpunkte. Unter Tudor, der ein System mit zwei Zehnern und einem Mittelstürmer favorisiert, bleibt der Vereinsikone nur die Reservistenrolle.

Payet, mit 35 übrigens nur ein Jahr jünger als Präsident Longoria, verhält sich bislang entgegen seinem Naturell überraschend ruhig. Der Standard-Virtuose passt nicht zum energischen und physischen Spiel Tudors - zumal in Neuzugang Alexis Sanchez bereits ein weiterer Spieler fortgeschrittenen Alters im OM-Angriff spielt. "Ihr werdet Payet und Sanchez noch zusammen auf dem Platz sehen", versprach Tudor den Pressevertretern nach dem 2:1 gegen Nantes im August, fügte dann aber vielsagend hinzu: "Wichtig ist das Gleichgewicht in der Mannschaft."

Ünder und Harit: "Ein unwahrscheinliches Duo"

Das 3-4-2-1 mit der Doppelzehn lässt dafür andere Spielertypen glänzen. Neben dem erstaunlich schnell zurechtkommenden Sanchez im Sturmzentrum überzeugte zuletzt beim 2:1 über Lille etwa der Ex-Schalker Sead Kolasinac, der schnelle Cengiz Ünder - und neben ihm überraschend auch Amine Harit. "Ein unwahrscheinliches Duo", titelte die französische Sportzeitung "L'Equipe" nach der starken Vorstellung. Weil Ünder zuvor noch nicht in Fahrt und Schalke-Leihgabe Harit noch gar nicht von Beginn an zum Einsatz gekommen war.

Doch Tudor setzt auf Rotation. 21 Spieler hat er schon eingesetzt, die zweitmeisten in dieser Ligue-1-Saison - obwohl die Resultate eigentlich keinen Grund zur Änderung geben. Mit 19 Punkten aus sieben Ligaspielen hat Tudor den historisch besten Start eines Marseille-Coaches hingelegt. Die 0:2-Niederlage bei den Tottenham Hotspur zum Champions-League-Auftakt war die einzige Pflichtspielniederlage unter Tudor, auch in London hatte sich OM bis zum Platzverweis gegen Chancel Mbemba ordentlich verkauft.

Und auch wenn Gerson oder der zuletzt nach 28 Minuten ausgewechselte Ex-Dortmunder Leonardo Balerdi immer noch ihre Frustration öffentlich zur Schau stellen: Dank der starken Ergebnisse setzt es von der Presse nun Lob für das Moderieren der Einsatzzeiten statt Kritik für den starren Führungsstil. Wenn sich Payet schon nicht beschwert ...

Michael Bächle

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