Bundesliga

"Der Fußball muss dankbar sein, dass es Guardiola gibt"

Interview mit Ramazan Yildirim

"Der Fußball muss dankbar sein, dass es Guardiola gibt"

Ramazan Yildirim

Ramazan Yildirim imago/Revierfoto

Herr Yildirim, Sie waren in Fürth Sportdirektor, zuvor an fünf Stationen Trainer. Aus welcher Perspektive sehen Sie heute den Fußball?

Ich empfinde es als Segen, beide Sichtweisen zu kennen. Zurzeit nutze ich die Gelegenheit, mir die Inhalte auszusuchen.

Spielersteckbrief Messi
Messi

Messi Lionel

Trainersteckbrief Klopp
Klopp

Klopp Jürgen

Trainersteckbrief Guardiola
Guardiola

Guardiola Josep

Trainersteckbrief Yildirim

Yildirim Ramazan

kicker: Um welche handelt es sich da?

Yildirim: Ich denke technisch-taktisch und schaue, wie ein Spieler das Profil, das ich mir für eine Position aufgestellt habe, erfüllt: Welche Situationen sich im Spiel ergeben und wie sie individuell oder als Mannschaft gelöst werden. Ich gucke aber auch auf den Trainer: Wie reagiert er auf welche Situation? Wie coacht er? Wie sieht seine Öffentlichkeitsarbeit aus?   

kicker: Welche Punkte beinhaltet das von Ihnen erstellte Profil eines Spielers?

Yildirim: Es ist so angelegt, dass ich, falls ich für einen Verein arbeiten würde, alle Elemente, die für diesen Verein, seine Mannschaft und deren Spielweise wichtig würden, herausziehen kann. Diese Struktur der Positionsprofile ist für das Scouting, die Analyse der eigenen Spieler und die Kaderzusammenstellung enorm wichtig.

kicker: Welche Prinzipien sind es für einen rechten Verteidiger?

Yildirim: Das defensive Zweikampfverhalten. Passspiel. Körpersprache. Ruhe am Ball. Qualität bei Flanken und im Abschluss. Vorlagen für Torschüsse und Abschlüsse der Mitspieler. Schnelligkeit. Intensive Läufe und vieles mehr. Aus diesem umfassenden Katalog kann ich dann sofort das individuell nötige Profil filtern.       

kicker: Wie gehen Sie bei der Erstellung eines Profils vor? Orientieren Sie sich am Ideal, also dem besten Rechtsverteidiger?

Yildirim: Nehmen wir einen Verein mit einer Dreierkette. Da suche ich einen Mann, der die Außenbahn allein spielen kann. Ein nächster Punkt: Hat diese Mannschaft oft den Ball? Muss dieser Spieler häufig lange Läufe absolvieren oder kurze Sprints? Ist er oft in den Aufbau integriert oder selten? Muss er bei Seitenverlagerungen in den freien Raum spurten? Habe ich einen Kandidaten gefunden, stelle ich einen Quervergleich her: Wer praktiziert gerade die Dreierkette in dieser Art? Dann schaue ich auf Ballbesitzzeiten der Mannschaften, auf die Trainer sowie deren taktisches Vorgehen und versuche 1:1 den besten Spieler aus dieser Spielweise herauszufiltern und gucke mir dessen Werte an. Dann habe ich die Quervergleiche für den Mann, den ich verpflichten will, und stelle sie gegenüber. Je mehr Informationen, desto fundierter die Entscheidung.

Bayern Munich's Canadian midfielder Alphonso Davies prays prior to the warm up of the German first division Bundesliga football match between FC Bayern Munich vs SC Freiburg in Munich, southern Germany, on November 6, 2021. (Photo by Christof STACHE / AFP) (Photo by CHRISTOF STACHE/AFP via Getty Images)

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kicker: Muss sich bei Transfers der Trainer oder der Sportdirektor durchsetzen? Oder geht es nur über Kompromisse?

Yildirim: Ein Kompromiss ist ein guter Schirm, aber kein gutes Dach. Der Verein und der Sportdirektor müssen die Vorgaben machen und dabei die Ideen des Trainers berücksichtigen. Im Idealfall haben sie den Trainer, der mit seiner Persönlichkeit, Fach- und Sozialkompetenz zu ihrer Philosophie passt.

kicker: Dieses Modell ist langfristig angelegt. Aber Zeit gibt es im Fußball selten.

Yildirim: Die Planung kann in Extremsituationen wie dem Abstiegskampf verlassen werden. Aber Kontinuität wünschen sich alle. Dazu braucht es die grundsätzliche Haltung: Was soll den Verein und die Spielweise der Mannschaft ausmachen? Wie sollen sein Innenleben und die Außenwirkung aussehen? Wenn diese Kombination stabil ist, unterlegt von hoher Fachkompetenz, ist die Chance für Kontinuität größer.

kicker: Aber nicht garantiert.

Yildirim: Nein, weil alles von den Ergebnissen abhängt. Und dafür muss ich vor einer Saison bei der Kaderzusammenstellung möglichst gut arbeiten, über Jahre hinweg. Für jede Analyse muss ich die richtigen Fragen stellen.

Die Änderungen in Fürth erfolgen zu spät.

Ramazan Yildirim

kicker: Nehmen wir Ihren früheren Verein SpVgg Greuther Fürth: Haben die Verantwortlichen dort bei der Planung für die Bundesliga Fehler gemacht oder im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten gehandelt?

Yildirim: Fürth steht dafür, sein Eigenkapital nicht zu gefährden. Dieser gute Wert galt immer und wird weitergelebt. Trotzdem möchte der Verein in der Bundesliga bleiben. Es liegt nicht in meiner Natur, mich kampflos zu ergeben. Mein Gefühl ist, dass die Art, mit der der Aufstieg gelang, fortgesetzt werden sollte. Damit fuhr die Spielvereinigung nicht gut. Die jetzigen Änderungen erfolgen zu spät.

kicker: Meinen Sie die Spielweise oder das Personal?

Yildirim: Beides. Mit einer funktionierenden Mannschaft und der richtigen Strategie ist der Ligaverbleib möglich. Wenn man aber die Spielphilosophie in den Vordergrund stellt, wird es in der Bundesliga schwierig, wie Fürth schmerzvoll erfahren musste. Ein Aufsteiger muss in der Bundesliga zunächst die Defensive stabilisieren. Kleine Vereine bekommen sicherlich nur schwer Verstärkungen, aber dann müssen Strategie und Taktik auf dem Platz angepasst werden, wie es Frank Kramer in Bielefeld praktiziert. Dort wird mehr auf die Defensive und das bedingungslose Verteidigen geachtet, als es die Fürther lange Zeit in der Hinserie taten. So hat die Arminia eine realistische Chance auf den Klassenerhalt, was Fürth leider verpasst hat. Der Unterschied zwischen beiden Vereinen liegt in der Herangehensweise.

Ramazan Yildirim und Frank Kramer, damals Nachwuchstrainer beim DFB.

Ramazan Yildirim und Frank Kramer, damals Nachwuchstrainer beim DFB. imago/Zink

kicker: Wie kann da ein Sportdirektor Einfluss nehmen?

Yildirim: Ich würde mit dem Trainer besprechen, mit welcher Herangehensweise wir auf der Basis unserer Möglichkeiten und Werte die größte Chance hätten - ohne etwas Verrücktes zu veranstalten. Entscheidend aber ist die entsprechende Vorbereitung auf die Saison, jedoch ohne Garantie für Ergebnisse und Erfolge.

kicker: Aufgrund der verschiedenen finanziellen Voraussetzungen in den Klubs bleiben die sportlichen Unterschiede gewaltig, hier Fürth, dort die Bayern.

Yildirim: Ja. Die Topmannschaften beherrschen auf dem Platz alles, den attraktiven Ballbesitzfußball wie das Verteidigen oder das Umschaltspiel. Weniger starke Teams können sich nur auf eine Sache fokussieren.

kicker: Warum offenbaren große Mannschaften immer wieder Lücken in der Defensive?

Yildirim: Diese Probleme gibt es, aber ein Pep Guardiola setzt dann sein Mittel, den Ballbesitz, ein, um gegnerische Konter im Keim zu verhindern. Gegenpressing ist ein anderes Schlagwort, das besagt, dass sich Mannschaften im Ballbesitz schon so positionieren, dass sie den Ball bei Verlust sofort zurückholen. Da wird schon in Ballbesitz die eigene Defensive vorbereitet, wie eben von Guardiola.

Messi garantiert Ballsicherheit und damit die Konterabsicherung

kicker: Kann Paris mit Individualisten wie Kylian Mbappé, Lionel Messi und Neymar Konterabsicherung vorbereiten?

Yildirim: Je größer die Stars, desto einfacher ist die Vorbereitung der Konterabsicherung, weil Messi Ballsicherheit garantiert. Um ihn herum kann ich - wie es heute heißt - einen Schirm aufbauen und die Räume verengen. Bei weniger ballsicheren Spielern muss der Verbund flexibler reagieren in der Konterabsicherung und Konterverteidigung. Es handelt sich da um zwei verschiedene Phänomene: Die Konterverteidigung bezieht sich auf die unmittelbare Abwehr eines Konters; mit der Konterabsicherung bereitet eine Elf in Ballbesitz die Defensive vor. Klassisch erfolgt sie bei Standards, wo am Sechzehner und weiter hinten Spieler postiert werden, damit es keine gefährlichen Gegenstöße gibt. Aber auch im fließenden Spiel kann und muss ein Spieler, der das Risiko und Dribbling liebt, abgeschirmt werden. Je größer die Räume, desto schwieriger sind sie zu kontrollieren. Solche Sachverhalte müssen wir beschreiben, statt zu viel zu bewerten, wie wir es im Fußball tun.

kicker: Kommt die detaillierte Analyse also zu kurz?

Yildirim: Ja. Und wir sind zu schnell bei "gut" oder "schlecht", beim Empfinden. Beim Beschreiben brauchen wir viel mehr Detailwissen, so kommen wir tiefer in die Inhalte.

kicker: Wie sieht die Beschreibung der 1:0-Führung der Bayern gegen Mönchengladbach zum Start der Rückrunde aus?

Yildirim: Da frage ich mich, warum Robert Lewandowski so viel Raum hatte. Waren die Abstände in der Dreierkette zu groß, um sich gegenseitig abzusichern? Wie hätte Nico Elvedi sich besser positionieren können? Warum war der Passweg offen? Was ist unmittelbar vor der Aktion passiert? Dann sind wir in der Beschreibung und Analyse, die die Trainer mit der Mannschaft machen. Dazu braucht es die pointierte Sprache, die wir im normalen Gebrauch, wenn es um Fußball geht, nicht benutzen.

kicker: Konkret?

Yildirim: Als ich den Fußball-Lehrer machte, erlebte ich eine bestimmte Sprache, die die meisten, die aus dem Lehrgang kamen, übernahmen. Bestimmte Situationen werden mit den gleichen Begriffen und Worten beschrieben, so dass dieser Sprache die Genauigkeit fehlt. Konterabsicherung und Konterverteidigung werden oft synonym gebraucht, obwohl da ein großer Unterschied besteht.

kicker: "Restverteidigung" ist ein anderer neuer Begriff. Was ist damit gemeint? Die Spieler hinter dem Ball? Die letzte Reihe?

Yildirim: Eine spannende Frage. Es beschreibt mehr als die Spieler hinter dem Ball. Es können auch die Spieler um Messi herum sein. Es kann die Arbeit einer ganzen Mannschaft beschreiben oder das Verhalten in bestimmten Räumen. Solche Schlagwörter erklären etwas, aber nur vermeintlich. Man muss genau werden, damit der Spieler weiß, was er machen soll. Auf das Wie kommt es an: Wer hat wann wo was zu tun? Die Trainerausbildung könnte viel tiefer auf die Sprache eingehen. Wenn man etwas beschreiben und erklären kann, ist das ein Zeichen, dass man etwas verstanden hat und es beherrscht. Nur so entsteht Entwicklung. Wir brauchen im deutschen Fußball Fachleute, gute Trainer. Rhetorische Stärke im öffentlichen Auftreten ist das eine; die eigentliche Fußballsprache aber belegt, dass ein Trainer im Thema ist.

Deshalb müssen alle, die hier spielen, die deutsche Sprache lernen, wie es in der Grundschule auch verlangt wird.

kicker: Kommt es auf sprachliche Nuancen bei dem babylonischen Sprachenwirrwarr in der heutigen Kabine überhaupt noch an?

Yildirim: Deshalb müssen alle, die hier spielen, die deutsche Sprache lernen, wie es in der Grundschule auch verlangt wird. Die Spieler nehmen zudem die Sprache des Trainers an, die Art, wie er über Fußball spricht. Wenn Trainer nach Abpfiff im Mittelkreis ihre Jungs versammeln, ist das eine clevere und legitime Methode, um die Aussagen der Spieler vor den Kameras zu beeinflussen und eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Sie sagen dann, was sie vom Trainer gehört haben.

kicker: Als die Dortmunder in Frankfurt nach einem 0:2-Rückstand 3:2 gewonnen hatten, lobten sie ihren Siegeswillen, obwohl davon lange nichts zu spüren gewesen war. Fängt da die Psychologisierung an mit Blick auf das kommende Spiel?

Yildirim: In so einer Phase kann es das Empfinden sein, dass man Mentalität gezeigt hat. Dieser Begriff umfasst viele Facetten, Mut, Cleverness, Willen, Zurücknahme. In der Fußballsprache wird darauf nicht immer präzise eingegangen, doch diese Genauigkeit braucht es, damit die entwickelten Ideen ihren Ausdruck finden. Die Sprache gibt wieder, wie sich ein Fachmann mit einem Thema auseinandergesetzt hat. Über die Sprache vermittelt er seine Gedanken an seine Spieler.

kicker: Ist eine plakative Einheitssprache bei einem so heterogenen Gebilde, wie es eine Fußballmannschaft ist, nicht praktikabler?

Yildirim: In der Kommunikation mit einer Mannschaft braucht der Trainer oder Sportdirektor natürlich eine Sprache, die jeder versteht. Aber ich denke bei diesem Komplex vor allem an die Ausbildung der Trainer. Beim Lehrgang für Fußballlehrer heißt es beim DFB Spieleröffnung, in Spanien construcción, also Aufbau oder Baukunst, in der Türkei wird einfach vom ersten Abschnitt gesprochen. Mit diesen Erkenntnissen konnte ich meine eigene, umfassende Struktur einer Spielanalyse entwickeln.

kicker: Hierzulande ist auch vom "letzten Drittel" die Rede.

Yildirim: Ja. Im Lehrgang wurde da auf das Herausspielen von Torchancen hingewiesen, die Spanier nennen es "finalización", also Abschluss.

kicker: Joachim Löw sprach gerne von "Spielauslösung".

Yildirim: Der Spanier nennt es "creación". Ich verstehe darunter ideenreiches Spiel, kreatives Ausnutzen der Möglichkeiten. Bei uns im Lehrgang hieß es "Übergangsspiel", abgekürzt "ÜS". Für mich bedeutet das auch, dass das nicht so wichtig ist, Hauptsache, das Mittelfeld wird überbrückt. Die Spanier legen mit einem Wort viel mehr Wert auf diese eine Zone, und so spielen sie dann.

Wer kopiert, gelangt nie zu einer eigenen Philosophie.

kicker: "Chancen kreieren" führte Louis van Gaal in Deutschland ein.

Yildirim: Bei seiner Vergangenheit bei Ajax Amsterdam und dem FC Barcelona und seinem Denken über Fußball kein Wunder. Anhand der sprachlichen Unterschiede sehe ich eine unterschiedliche Spielweise. Wir Deutschen versäumen es manchmal, dass wir aus unseren großartigen Werten etwas erschaffen, das zu uns passt und nicht zur Kopie einer anderen Nation oder Gangart wird. Wer kopiert, muss sich ständig Neuerungen und vermeintlichen Verbesserungen anpassen und gelangt nie zu einer eigenen Philosophie.

kicker: Sind wir jetzt bei den deutschen Tugenden?

Yildirim: Ja, und die finde ich nicht schlecht. Auf deren Basis kann ich in den Nachwuchsleistungszentren eine Spielidee, die für die deutsche Nation steht, entwickeln, ohne die nötige Individualität und Flexibilität zu vernachlässigen. Ich müsste diese dann nicht alle paar Jahre komplett ändern, wie auch momentan zu sehen ist, sondern nur der Aktualität leicht anpassen. Und für jede Position brauche ich spezielle Persönlichkeitsmerkmale.

kicker: Welche für welche?

Yildirim: Die Außenspieler sind die Teamplayer, die für die Mannschaft arbeiten; die zentralen eher die dominanten Persönlichkeiten, die Stabilität geben und führen sollen. Ein Stürmer darf egoistischer als ein Außenverteidiger sein.

kicker: Sie waren 2014 Co-Trainer bei Fenerbahce Istanbul. Schaut der türkische Fußball mehr nach Spanien oder Deutschland?  

Yildirim: Die deutsche Organisation und Disziplin werden geschätzt, es wird versucht, sie umzusetzen. Insgesamt haben die Türken eine große Affinität zu England. Die Toptrainer und Topspieler machen die Premier League so interessant. Es tat auch Deutschland supergut, dass Guardiola hier gearbeitet hat.

Guardiola ist als Einziger innovativ mit seinen Inhalten unmittelbar auf dem Platz, etwa mit den weiter innen positionierten Außenverteidigern. Guardiola ist extrem kreativ und gewinnbringend für den Fußball.

kicker: Er hat das fachliche Nachdenken und Diskutieren über die Materie Fußball forciert.

Yildirim: Ja. Zuvor hatte Jürgen Klopp mit aggressivem Pressing und schnellem Umschalten den Stil geprägt. Guardiola hat mit Ballbesitz und wenigen Fehlern eine andere Art des Spiels implementiert. Der Fußball muss dankbar sein, dass es Guardiola gibt. Er ist als Einziger innovativ mit seinen Inhalten unmittelbar auf dem Platz, etwa mit den weiter innen positionierten Außenverteidigern. Guardiola ist extrem kreativ und gewinnbringend für den Fußball.

kicker: Spiele werden auch mit dem Kopf gewonnen. Mit Blick auf Dortmund gibt es die Debatte über Mentalität. Liegt da nach dem Superkader der zweite große Vorteil der Bayern?  

Yildirim: In Dortmund braucht es Führungskräfte mit viel mehr Lebenserfahrung und Erfolgserlebnissen. Die Münchner habe ein anderes Selbstverständnis und eine andere Reife mit Manuel Neuer, Robert Lewandowski und Thomas Müller. Dieses Trio macht den Unterschied, wenn es nicht läuft.

kicker: Steckt Mentalität in einem Verein grundsätzlich? Oder kann man sie implementieren?

Yildirim: Wenn eine solche Haltung schon seit Jahren in einem Verein gelebt wird, ist sie leichter anzunehmen. Aber man kann durchaus Haltung fordern und fördern. Beim FC Bayern ist sie über die Jahrzehnte gewachsen, heute heißt es: Bayern gewinnt immer. Die Münchner haben diese Überzeugung, sie strahlen sie nach außen aus, und die Konkurrenz glaubt es.

kicker: BVB-Coach Marco Rose will diese Haltung nun verstärkt vermitteln. Wird es funktionieren?

Yildirim: Ich glaube nicht, dass es mit Worten einzufordern ist und es nach fünf Wochen oder fünf Monaten klappen wird. Diese Haltung muss schon im Jugendbereich und über die Trainer wachsen. Da müssen die angestrebten Werte vorgelebt werden. Die Bayern geben da ein Vorbild, die Freiburger gehen ihren Weg.

kicker: Was zeichnet dieses Freiburger Modell aus?

Yildirim: Kontinuität, Stabilität. Demut. Fleiß. Teamgeist und Einsatz bis zur letzten Sekunde. Haltung gehört heute zu den Spielprinzipien. Ein Sportdirektor kann darauf schon bei der Spielersuche achten.

Diese ausgeprägte Haltung, von der Rose spricht, ist in Dortmund nicht gegeben.

kicker: Gab es da beim BVB Versäumnisse?

Yildirim: Nein, die Dortmunder haben es versucht. Das Schwierige dort ist, diese Haltung gemeinsam nach außen zu tragen. Thomas Delaney hatte diesen Charakter, er konnte sich jedoch irgendwann spielerisch nicht mehr durchsetzen. Diese ausgeprägte Haltung, von der Rose spricht, ist in Dortmund nicht gegeben. Dort dominiert das jugendliche, frische, dynamische Element, das aus Klopps Zeit stammt.

"Hoeneß duckte sich nie weg"

kicker: Die Konstanten in Dortmund und München sind die handelnden Personen in der Führung. Welchen Einfluss haben sie in dieser Frage?

Yildirim: Uli Hoeneß hat den FC Bayern genauso geprägt wie Hans-Joachim Watzke Dortmund. Diese Klarheit der vergangenen 30 Jahre unter Hoeneß wird es in München künftig nicht mehr so geben. Das Selbstverständnis der Münchner ändert sich, darin liegt die Chance der Bundesliga. Siehe das Katar-Thema. Früher zeigte der FC Bayern immer eine klare Kante. Hoeneß duckte sich nie weg. Er verkörperte eine Stabilität, die seine Nachfolger natürlich erst entwickeln müssen.

kicker: Nach Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge verabschieden sich Michael Zorc und Rudi Völler. Werden die Nachfolger das große Erbe fortführen?

Yildirim: Sebastian Kehl in Dortmund, Simon Rolfes in Leverkusen, Marcel Schäfer in Wolfsburg oder Arne Friedrich bei Hertha sind ja schon im Amt. Und der DFB bietet Sportdirektoren nun eine Ausbildung an …

kicker: … wird sie helfen?

Yildirim: Das theoretische Wissen etwa über Statuten kann man sich so aneignen. Doch die praktische Erfahrung im Alltag eines Vereins ist unbezahlbar, wie das Beispiel Uli Hoeneß zeigt. Ich hatte meine Lehre beim Fürther Präsidenten Helmut Hack, finde aber den DFB-Ansatz für eine Aus- und Weiterbildung gut. Beim Lehrgang für Fußballlehrer wie Sportdirektoren müssen die Erfahrungswerte aus der Praxis einfließen. Dieser Austausch unter vier Augen bringt enorme Erkenntnisse. Ich suche diese Gespräche, sie helfen mir.

Fürths ehemaliger Präsident Helmut Hack und Ramazan Yildirim.

Fürths ehemaliger Präsident Helmut Hack und Ramazan Yildirim. imago/Zink

kicker: Ist der Sportdirektor mehr Partner oder Kontrolleur des Trainers?

Yildirim: Unbedingt Partner. Und auf Augenhöhe. Deshalb braucht ein Sportdirektor die inhaltliche Kompetenz für die sportliche Detaildiskussion. Wenn er Trainer war, kann er denken wie ein Trainer.

kicker: Sie kamen im Januar 2016 nach Fürth, am 21. November 2016 wurde Trainer Stefan Ruthenbeck entlassen, die Spielvereinigung stand auf Platz 13. Warum war diese Entlassung nötig?

Yildirim: Wir glaubten nicht mehr daran, mehr erreichen zu können. Wir mussten die Mannschaft anders anpacken. Mit Janos Radoki spielten wir eine unheimlich erfolgreiche Rückrunde. Und Ruthenbeck macht heute bei der U 19 des 1. FC Köln eine tolle Arbeit.

kicker: Sie selbst gingen im November 2017. Die Spielvereinigung war 17, Vorletzter in der Zweiten Liga. Was war schiefgelaufen?

Yildirim: Präsident Helmut Hack und ich waren uns einig, dass eine Trennung die beste Lösung war, damit alles besser zusammenwachsen konnte, weil auch er als Klubchef seinen Abschied geplant hatte. Es sollte ein kompletter Neubeginn werden.

kicker: Mussten Sie damals die Grenzen des Machbaren für einen Sportdirektor erfahren?

Yildirim: Ich denke nicht in Grenzen, sondern in Möglichkeiten, die es in jedem Verein gibt. In diesem Optimierungsmodus bewege ich mich schon mein ganzes Leben lang, in allen Bereichen. Für mich gibt es keine Grenzen nach oben.

Was der Fall Immobile in Dortmund zeigt

kicker: Trifft der Spruch, dass der Trainer immer das schwächste Glied in der Kette sei, zu?

Yildirim: Nein. Der Trainer hat im Gegensatz zum Sportdirektor direkten und größten Einfluss auf die Mannschaft. Er muss intern die nötige Atmosphäre schaffen und zum Beispiel auf ausländische Spieler gezielt eingehen. Nehmen wir Ciro Immobile in Dortmund. Er war vorher und danach ein Toptorjäger, weil er eine andere Ansprache, Vorbereitung oder Ernährung gewohnt war, eine andere Intensität im Spiel. Da muss ich ihm die Integration gezielt erleichtern. Wenn er 45 Minuten intensives Training nicht gewohnt ist, muss ich ihn zunächst nach 30 Minuten herausnehmen.

kicker: Aber es geht um Mannschaftssport: Wo fängt da diese Einzelbehandlung an? Wo hört sie auf?

Yildirim: Man muss es natürlich anpassen. Zuerst kommt immer der Mensch. Es ist fatal, wenn für Spieler so viel Geld ausgegeben wird und sie nicht entsprechend geführt werden. Die Spieler müssen sich wohl fühlen, dürfen sich selbst aber nicht zurücklehnen.

kicker: Der Spieler hat eine Eigenverantwortung.

Yildirim: Aber natürlich. Der Fußball verlangt die maximale Leistung und darf keine Wohlfühloase sein. Es geht um Ergebnisse und Entwicklung. Wenn afrikanische Spieler in eine völlig neue Welt kommen, brauchen sie allerdings Begleitung, Strukturen. Darauf müssen die Vereine vorbereitet sein.

Ramazan Yildirim

Ramazan Yildirim als Trainer des VfB Lübeck (Dezember 2011 bis Dezember 2012). imago sportfotodienst

kicker: Die Praxis sieht anders aus. Ist Ihr Fußball-Ansatz zu idealistisch? Zu theoretisch?

Yildirim: Nein, es geht immer um den Übertrag in die Praxis.

kicker: Gehen die Entscheider so detailliert-theoretisch an die Fußballthemen heran?

Yildirim: Dafür haben die meisten gar nicht die Zeit.

kicker: Wo liegt Ihre Zukunft?

Yildirim: Ich wollte stets dazulernen. Wer arbeiten will, findet immer Arbeit. Hack in Fürth sagte mir, ich müsse Sportdirektor werden. Dieser Perspektivwechsel war ein absoluter Gewinn. Ich hatte gerade den Fußball-Lehrer gemacht und meinte, ich sei Trainer. Die Zeit ohne Anstellung habe ich jeden Tag genutzt, um mich fortzubilden.

Anfangs wehrte ich mich, da wurde es noch schlimmer. Dann nahm ich es mit Humor. Allmählich wurde es weniger, doch es hörte nicht auf. Als ich Vater wurde, habe ich es nicht mehr beachtet.

kicker: Ist es heute für Migranten noch schwieriger?

Yildirim: Nein. Anfangs wehrte ich mich, da wurde es noch schlimmer. Dann nahm ich es mit Humor. Allmählich wurde es weniger, doch es hörte nicht auf. Als ich Vater wurde, habe ich es nicht mehr beachtet. Ich ging als Spieler in der Zweiten und Dritten Liga als Erster auf den Platz, um zu zeigen, dass ich keine Angst hatte. Und wenn gegen unseren Mannschaftsbus Steine flogen, stieg ich aus, um mit den Fans zu reden. Heute bin ich strukturiert und höchst belastbar, weil ich eine innere Gelassenheit habe.

kicker: Wollten oder mussten Sie sich als Migrant umso mehr beweisen?

Yildirim: Es war die Eigenmotivation, nach Lösungen zu suchen; und eine Selbstverständlichkeit, mehr leisten zu müssen als andere, wenn man mit sechs Kindern in einer Dreizimmerwohnung lebt. Ich habe schon mit 16 Jahren Verantwortung für meine Familie übernommen und Geld verdient. Fleiß ist für mich eine große Tugend. Auf dem ganzen Gymnasium waren wir fünf Schüler mit Migrationshintergrund. Unsere Kinder sind heute besser integriert als wir, die zweite Generation. Die latente Abneigung war damals immer zu spüren. Alltagsrassismus gibt es leider überall auf der Welt. Dennoch fand ich es toll, wie man hier als Profi arbeitet und Fußball lebt.

kicker: Wäre für die Türkei eine WM-Qualifikation bei den Playoff-Gegnern Portugal und Italien eine Sensation?

Yildirim: Die Türkei ist Außenseiter, aber eine Sensation wäre ihre Qualifikation nicht. Es dauert allerdings, bis die angestrebte Neuaufstellung umgesetzt ist.

kicker: Muss der türkische Nationaltrainer Stefan Kuntz bei einem Aus mit seiner Entlassung rechnen?

Yildirim: Diese Frage ist ohne den täglichen internen Kontakt schwer zu beantworten. Es soll ja mit Kuntz im türkischen Fußball etwas entwickelt werden.

kicker: Wieso kam es zu dieser bedauerlichen Entwicklung zwischen Mesut Özil und dem deutschen Fußball?

Yildirim: Vielleicht gibt es Vernarbungen aus der Vergangenheit. Ich finde das alles sehr schade.

Bei Özil gibt es noch Möglichkeiten nach oben.

kicker: Erfüllt er die Erwartungen bei Fenerbahce?

Yildirim: Bei seinem Potenzial gibt es noch Möglichkeiten nach oben. Für Fenerbahces Ansprüche ist es aktuell bei allen zu wenig, auch bei Özil. Die Erwartungshaltung an ihn ist enorm.

kicker: Müsste der deutsche Fußball bei der Integration türkischer Talente anders vorgehen?

Yildirim: Ja. Man muss sich dabei sehr intensiv mit dem jeweiligen jungen Menschen beschäftigen, muss das familiäre Umfeld kennen und alles sehr feinfühlig abtasten. Es darf kein Druck entstehen und keine politische Entscheidung werden. Nationalstolz darf keine Rolle spielen. Der Spieler muss nach seinem Gefühl entscheiden, ohne dass es persönliche Anfeindungen gibt aus dem Land, dem er nicht den Zuschlag gibt. Nuri Sahin spielte für die Türkei, Özil für Deutschland und wurde Weltmeister. Der DFB wird allerdings nicht zufrieden sein, wenn er in den Nachwuchsleistungszentren Talente für andere Nationalmannschaften ausbildet.

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