2. Bundesliga

St. Pauli vor dem HSV: Zeitenwende in Hamburg?

Kräfteverhältnisse in der Hansestadt haben sich geändert

St. Pauli vor dem HSV: Zeitenwende in Hamburg?

Elias Saad (oben) und der FC St. Pauli haben den HSV um Miro Muheim sportlich übertrumpft.

Elias Saad (oben) und der FC St. Pauli haben den HSV um Miro Muheim sportlich übertrumpft. IMAGO/Justus Stegemann

Es ist rund zwei Jahre her, dass das über Jahrzehnte Unvorstellbare schon einmal ganz nah schien. Als sich der HSV und St. Pauli am 20. Spieltag der Saison 2021/22 zum Derby im Volkspark trafen, lag der "kleine" Nachbar in der Tabelle sechs Punkte vor dem einstigen Flaggschiff des deutschen Fußballs. Und zur Pause 1:0 vorn. Am Ende drehte der HSV nicht nur das Stadt-Duell (2:1), sondern stellte auch noch die gewohnte Rangfolge wieder her: Noch nie hat der Kiez-Klub im Profifußball in einer Abschlusstabelle stadtintern vorne gelegen.

In diesem Jahr wird sich nicht nur das ändern, sondern das "kleine" St. Pauli in der kommenden Saison womöglich auch erstmals in einer höheren Liga spielen. Eine Zeitenwende in der Hansestadt?

"St. Pauli ist sportlich aktuell die Nummer eins"

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Bernd Wehmeyer hat die ganz großen Zeiten des HSV als Profi ganz entscheidend mitgeprägt, war 1983 Europapokalsieger der Landesmeister, wurde Deutscher Meister. Mit 71 Jahren ist er Vizepräsident und beantwortet die Frage nach einem möglichen Führungswechsel in Hamburg zweigeteilt. "Rein sportlich gesehen müssen wir konstatieren, dass St. Pauli einen Schritt weiter ist als wir." Dann holt der frühere Dauerläufer tief Luft und spricht einen Satz aus, der ihm als jahrzehntelangem HSVer nur schwer über die Lippen kommt: "Rein sportlich ist St. Pauli aktuell die Nummer eins."

Aber was bedeutet diese Bestandsaufnahme für die Stadt? In Berlin haben sich die Kräfteverhältnisse ebenfalls verschoben, spielt der 1. FC Union in der laufenden Spielzeit erstmals in einer höheren Liga als Hertha. Das wird voraussichtlich auch in der kommenden Saison so sein, die Folge in der Hauptstadt aber ist: Die "alte Dame" wird dennoch als "sexy" empfunden, verzeichnet einen Mitgliederboom und einen Zuschauerschnitt von knapp 50.000.

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Wehmeyer erwartet in der Hansestadt zumindest zunächst ebenfalls keine weitreichenden Folgen: "Ich fürchte keine unmittelbaren Auswirkungen. Unsere Anhängerschaft wird uns treu bleiben, und bei den Sponsoren gibt es ebenfalls klare Signale." Tatsächlich steht schon jetzt nahezu fest, dass auch in der siebten Zweitliga-Saison alle "Business Seats" und Logen im Volkspark ausverkauft sein werden. "Die Größe des HSV", sagt Wehmeyer, "liegt ja auch in der Vergangenheit begründet."

Hinzu kommen die bestehenden Unterschiede zwischen beiden Vereinen. "Beide Klubs sind in der Stadt fest verankert, haben aber ihre jeweils ganz eigene Anhängerschaft, es wird zwischen beiden keine Überläufer geben", sagt der Ex-Profi und belegt dies anhand des tiefen St.-Pauli Absturzes im Sommer 2003. Nach einem einjährigen Bundesliga-Gastspiel war der Klub innerhalb von zwei Jahren bis in die drittklassige Regionalliga Nord durchgereicht worden und an den Rand der Insolvenz gerutscht, selbst HSV-Idol Uwe Seeler hatte sich damals an der Retteraktion beteiligt.

1977 schlossen sich die HSV-Fans aus Wut St. Pauli an.

Bernd Wehmeyer

"Ein volles Haus", erinnert Wehmeyer, "hatte St. Pauli auch in der Regionalliga, deren eingefleischte Fans wären niemals zu uns übergelaufen." Vor 50 Jahren indes waren "Überläufe" noch nicht ausgeschlossen. Obwohl sich der HSV und St. Pauli 1977/78 erstmals in der Bundesliga begegneten, trennten beide Klubs noch Welten, der kleine Nachbar hatte sich eher verirrt ins Oberhaus, hatte noch keine eigene Fankultur. Für 90 Minuten aber stellte er am 3. September 1977 die Stadt auf den Kopf, gewann im Volkspark sensationell und schaffte heute Unvorstellbares: Die HSV-Fans wechselten aus Wut die Seiten.

Beobachtet seinen HSV noch immer ganz genau: Sergej Barbarez.

Beobachtet seinen HSV noch immer ganz genau: Sergej Barbarez. www.imago-images.de

"Auf dem Kopf eine HSV-Mütze, auf den Lippen die St.-Pauli-Rufe", beschrieb das Hamburger Abendblatt ein heute undenkbares Szenario. Vor rund 20 Jahren spielte Sergej Barbarez in der Bundesliga das Stadt-Derby. Der neue bosnische Nationaltrainer lebt seit 2000 in der Hansestadt, ist ein Intimkenner der Hamburger Fußballszene und kommt zum gleichen Urteil wie Wehmeyer: "Beide Vereine können in dieser Stadt ganz hervorragend nebeneinander leben, sie graben sich nicht gegenseitig das Wasser ab. Und allein aufgrund seiner Geschichte wird der HSV auch dann der Große in der Stadt sein, wenn St. Pauli in einer höheren Liga spielt."

Ausgerechnet Oke Göttlich, Präsident des aufstrebenden einstigen Underdogs, hat bislang ebenfalls immer diese These unterstützt: "Der HSV ist ein großer Verein über Jahrzehnte, und wir sind der Stadtteilverein, der immer weiter versucht, sich zu verbessern. Wir sind gern das kleine Viertel." Doch das kleine Viertel ist größer geworden. Und denkt größer. "Natürlich wollen wir unseren Weg kontinuierlich weiterverfolgen", so der Musikunternehmer.

Seit er den Ton angibt, ist St. Pauli zuletzt immer näher an den HSV herangerückt. Zwischen 1988 und 1991 haben beide schon einmal drei Jahre nacheinander in derselben Liga, damals erstklassig, gespielt. Jetzt hatten die Rivalen sechs Spielzeiten in Folge, also so lange wie noch nie, dieselbe sportliche Heimat. Mit zweijährigem Anlauf hat St. Pauli zum Überholmanöver angesetzt. Und unabhängig von der Frage, ob der einst große HSV immer größer bleiben wird, ist deutlich sichtbar: St. Pauli boomt, nicht nur sportlich.

St. Pauli boomt nicht nur sportlich

Hürzeler über möglichen Derbysieg: "Würde einen Aufstieg höher bewerten"

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Auch am Millerntor wachsen die Mitgliederzahlen rasant: Im Sommer 2023 bereits stand das Rekordhoch von 35.000 Mitgliedern, jetzt wird die 50.000er-Marke angesteuert, durch sein gesellschaftliches Engagement hat der Verein in der Stadt ohnehin einen wichtigen Platz. St. Paulis Wachstum wird auch im Volkspark registriert.

Wehmeyer sagt: "So sehr wir uns auf die Treue unserer Fans und Sponsoren verlassen können und so groß die Strahlkraft des HSV noch immer ist - wir dürfen uns auch nicht darauf verlassen, dass es immer so bleibt." Wehmeyer kam 1978 nach Hamburg, ein Jahr, nachdem St. Pauli erstmals im Profifußball den HSV geschlagen hatte, aber noch Lichtjahre vom Nachbarn und selbst von einer echten Rivalität entfernt war. Er sagt: "Dass St. Pauli uns sportlich überholt hat, tut weh, aber ich sehe noch keine Zäsur."

Am Freitag treffen sich der einst große und der einst kleine Nachbar wieder zu einem Derby, in dem die Grenzen längst verschwommen sind. Vorerst wird es nach sechs Jahren wohl das letzte sein - aber für wie lange? HSV-Idol Barbarez traut St. Pauli eine Etablierung zu.

"Der Höhenflug ist das Resultat einer kontinuierlichen Entwicklung mit klaren und auch unbequemen Entscheidungen in der Führung. Und wenn man ehrlich ist, bezieht sich das nicht nur auf den sehr wahrscheinlichen Aufstieg, sondern auch darauf, dass St. Pauli aktuell vor dem HSV steht. Das hat sich angedeutet." Und ist damit mehr als eine Momentaufnahme.

Sebastian Wolff

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