Europa League

Glasgow Rangers: James Tavernier und seine "seltene Gabe"

Über Kapitän James Tavernier

Der Marathonmann der Rangers und seine "seltene Gabe"

Keiner jubelt so oft wie er: James Tavernier, Toptorjäger der Europa League.

Keiner jubelt so oft wie er: James Tavernier, Toptorjäger der Europa League. Getty Images

Den Vergleich wird er nicht los. Gary Stevens war einst Rechtsverteidiger bei den Glasgow Rangers, sechs Meisterschaften gewann er zwischen 1988 und 1994. Heute arbeitet der 59-jährige Engländer in Australien als Physiotherapeut, und ist darum gleich doppelt berufen, über James Tavernier zu sprechen. Wie der aktuelle Rangers-Kapitän galt Stevens einst als ständiger Vorwärtsverteidiger. "Ich konnte damals auch 90 oder 120 Minuten die Bahn rauf und runter rennen", sagt Stevens dem "Daily Record". "Aber ich war technisch nicht so stark. "Tav" ist obendrein ein noch besserer Torschütze als die meisten auf dem Feld." Und aus der Sicht eines Physios fügt er an: "Er hat die seltene Gabe, dass seine Muskeln sowohl die eines Sprinters als auch die eines Marathonmanns sind." Tavernier solle sich bedanken bei seinen Eltern für diese Gabe.

63 Pflichtspiele standen bislang in dieser Saison auf dem Programm der Rangers, Tavernier bestritt davon 56, bis auf zwei Partien alle über die volle Distanz. "Man muss auch Glück haben, wenn man seinen Körper so pusht", sagt Stevens. Noch zwei Endspiele warten nun auf Tavernier: am Mittwoch in der Europa League gegen Eintracht Frankfurt und am Samstag im Scottish FA Cup gegen Heart of Midlothian. "Wir wollen beide Titel, und Jimmy damit stolz machen", sagt Tavernier.

Die Binde wird nicht gewaschen

Natürlich wird er die Rangers in beiden Finals auf den Platz führen. Aber irgendwie anders als sonst, denn da ist die Sache mit der Kapitänsbinde. Es gehörte über Jahre zum Ritual, dass Jimmy Bell sie ihm vor dem Anpfiff demonstrativ über den linken Oberarm streifte. Doch kurz vor dem Halbfinal-Rückspiel ist der legendäre Zeugwart nach fast 30 Jahren im Dienst der Rangers überraschend gestorben. "Er hat die Binde nie gewaschen, wenn wir gewonnen haben", sagt Tavernier. Also will er das gleiche Stück Stoff tragen wie beim 3:1-Sieg über RB Leipzig.

Der perfekte Kapitän für diesen Verein.

Craig Moore über James Tavernier

Natürlich hat Tavernier auch in diesem Spiel getroffen. Sieben Tore (davon vier Elfmeter) schoss er in der Europa League, keiner im gesamten Wettbewerb hat mehr - und das als Abwehrmann. Noch imposanter wird die Statistik, weil Tavernier alle sieben Tore erst in den K.-o.-Runden erzielte, in sämtlichen Heimspielen gegen Dortmund, Roter Stern Belgrad, Braga und Leipzig war er für das 1:0 verantwortlich, was seine Wichtigkeit noch weiter unterstreicht. Craig Moore, früher Kapitän der Rangers und später auch Verteidiger in Gladbach, sagt: "Eigentlich spielt er rechts hinten, aber James ist immer im Vorwärtsgang, schießt starke Standards, ist sicher bei Elfmetern und hat ein unglaubliches Timing, wann er vorn am langen Pfosten auftauchen muss. Der perfekte Kapitän für diesen Verein."

"Tav" nennen sie ihn nur in Schottland, doch bis zum Heldenstatus bei den Rangers war es ein weiter Weg. Daheim in England galt er als großes Talent, auch wenn Tavernier nie in einer U-Nationalelf spielte. Newcastle holte ihn aus der Akademie von Leeds United, den Durchbruch aber schaffte er nicht, ganze zweimal spielte er in der Premier League, insgesamt 36 Minuten in der Saison 2012/13. Newcastle verlieh ihn bis hinab in die 5. Liga, an Gateshead, Shrewbury oder die MK Dons. 2014 verkauften ihn die Magpies für 100.000 Euro an Wigan Athletic, das ihn wiederum an Bristol City weiterreichte. 2015 kauften ihn die Rangers für 250.000 Euro.

Der Vergleicht mit Alexander-Arnold

Dort startete Tavernier beim damaligen Zweitligisten durch. Zehn Tore und 18 Vorlagen in der ersten Saison ließen die Fans wie die Mitspieler staunen. Stürmer Kenny Miller, damals einer der Profiteure von Taverniers Flanken, erinnert sich im BBC-Interview: "Tav kam als unbekannte Größe, aber man sah sofort seine Qualitäten." Heute sei der Ex-Kollege ein moderner Rechtsverteidiger, ähnlich schussgewaltig wie Liverpools Trent Alexander-Arnold. Aber auch ähnlich defensiv verwundbar. "Er ist ein deutlich besserer Verteidiger als sein Ruf", behauptet Miller dennoch. Aber als Anführer der Mannschaft würden Misserfolge eben oft zuerst an Tavernier festgemacht werden. "Manchmal ist man zu schnell damit, jemanden als Legende zu bezeichnen. Aber bei Tav waren wir eher zu langsam." Niemand drücke den Spirit des Vereins besser aus als Tavernier. Wie die Rangers kämpfte er sich hoch aus den Niederungen, von Gateshead bis Sevilla.

"Und seine Zahlen sind furchteinflößend", ergänzt Miller. In 345 Pflichtspielen für die Rangers schoss Tavernier 83 Tore und gab über 100 Assists, allein in dieser Saison sind es 18 Treffer und 17 Vorlagen. Von solchen Werten träumen viele Mittelstürmer. "Er hat diesen Drive", erklärt sein Coach Giovanni van Bronckhorst, darum sei Tavernier auch so schwer zu verteidigen. Zugleich preist der Niederländer immer wieder die Abwehrarbeit seines Leaders auf dem Feld, um die Konzentration auf die eigentliche Aufgabe zu lenken. Tavernier selbst versucht den Rummel um seine Person lieber klein zu halten. "Wir haben jedes Jahr versucht, den Verein etwas besser zu machen. Und dieses Finale ist die Belohnung", sagt er. Dass es ohne den Marathonmann kaum möglich gewesen wäre, sagt er nicht. Andere reden derzeit schon genug über ihn.

Martin Gruener

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