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Verehrung für die Schwarzwurzel, Verachtung für die Söldner des Punktgewinns

Nachruf auf Cesar Luis Menotti

Verehrung für die Schwarzwurzel, Verachtung für die Söldner des Punktgewinns

Cesar Luis Menotti 1978, im Jahr seines größten Erfolges.

Cesar Luis Menotti 1978, im Jahr seines größten Erfolges. imago images

Mit "Dicke Umarmung" hatte er sich neulich noch verabschiedet, zuletzt im März in Buenos Aires. In den Jahren zuvor öfter auch mal mit "Feliz vida", etwa: "Hab' ein glückliches Leben". Ein andermal bat er, Grüße an Dritte auszurichten, die er schon seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen hatte. Es kam da etwas von dem Menschen Cesar Luis Menotti durch, jenseits der Trainerlegende. Der Weltmeistercoach von 1978 mag seit dem Triumph mit und in Argentinien zu Diktaturzeiten keinen großen Titel mehr gewonnen haben, ein ewig Gestriger aber war er nie.

Kritisch bis zuletzt über die moralischen Abgründe des modernen Fußballs

Menotti lebte bis zuletzt im Hier und Jetzt, gab neulich noch ein Interview zur Lage der Nationalmannschaft, dem aktuellen Weltmeister, und er hatte in seinem letzten Lebensjahrzehnt noch eine online-Trainerakademie gegründet und schimpfte, durchaus nicht stringent angesichts der eigenen Karriere, über die wirtschaftlichen Exzesse und moralischen Abgründe des modernen Fußballs. Der große, alte Fußballweise aber begleitete mit seiner Kritik die neue Zeit, die eigentlich gar nicht seine war.

Denn seine Erfolge, Jahrzehnte zurückliegend, trug Menotti nie vor sich her. Es ging ihm auch in seinen letzten Jahren darum, den Fußball nicht zur bloßen Geldmaschine verkommen zu lassen. Der Jugend das Gesunde des Spiels nahebringen, das war sein hehrer Wunsch: Spielzüge, Tore, Mannschaftsgeist. Einfach sieht der Fußball nur bei den Könnern aus, so Menotti. Schöner Fußball? Es gehe vielmehr um guten Fußball. Mit Hirn gespielt - daraus werde im besten Fall auch schöner Fußball. Auch deshalb die Idee mit der Trainerakademie.

Endloses Schlendern über den Viktualienmarkt

Selber aber stand er nicht vor den Eleven. Lieber schlenderte er, vor Jahren durfte man ihn dabei begleiten, über den Viktualienmarkt in München. Dabei blieb der durchaus passionierte Hobbygärtner mit Kennerblick für Gemüse gerne stehen und ließ sich informieren, die Schwarzwurzel hatte es ihm angetan. Ja, man konnte mit Cesar Luis Menotti über Deutschlands Marktstände schlendern und kam kaum voran, so viel gab es da zu bestaunen für den Argentinier, und wenn man hie und da einen Besuch in Buenos Aires ankündigte, dann kam es schon mal vor, dass er um ein paar Kräuter aus Deutschland bat.

Cesar Luis Menotti (re.), kicker-Reporter Jörg Wolfrum und Uli Hoeneß 2009 in München.

Cesar Luis Menotti (re.), kicker-Reporter Jörg Wolfrum und Uli Hoeneß 2009 in München. picture-alliance / augenklick/sampics

Die Liebe zum Spiel selbst hat ihn freilich nie losgelassen. Auf der Homepage seiner Akademie begrüßte er die User mit dem Satz, den er seit Jahrzehnten immer vortrug, wenn es um die von ihm geschätzten großen Teams des Weltfußballs ging, etwa die Niederlande der Legende Johan Cruyff: "Eine Fußballmannschaft ist wie ein Orchester. Je mehr Übungszeit, desto besser."

Eine Fußballmannschaft ist wie ein Orchester. Je mehr Übungszeit, desto besser.

Cesar Luis Menotti

Menotti machte sich für Weltmeister-Trainer Scaloni stark

Dass der vermeintliche Freigeist in seinen letzten Lebensjahren sogar als Direktor innerhalb des skandalträchtigen argentinischen Verbandes AFA fungierte, riss Romantiker aus allen Hoffnungen: Den Verbandsspinnen im Weltfußball geht früher oder später offenbar noch jeder ins Netz. Andererseits: Wer, wenn nicht Menotti könne die AFA auf den rechten Weg geleiten? Der damals schon über 80-Jährige war seiner Stellenbeschreibung "Koordinator" wegweisend gerecht geworden, indem er ein Langfristengagement für Nationaltrainer Lionel Scaloni anstieß zu einer Zeit, als der spätere Weltmeistertrainer im Verband als reine Übergangslösung angesehen worden war.

Dass Argentinien "mit Menotti" als Direktor nach Jahrzehnten der Wartezeit 2022 zum dritten Mal Weltmeister wurde, mutet da fast zwangsläufig an. Allerdings bestand Menottis Job nur auf dem Papier.

Ambivalentes Verhältnis zu Institutionen

Die Beziehung von Menotti zu Institutionen war stets ambivalent: Über Jahrzehnte lud er verbal Unkraut ab, etwa über die AFA und ihren bereits 2014 verstorbenen, korruptionserprobten Boss Julio Grondona oder den Weltverband. Aber auch der Hobbygärtner Menotti lebte nicht von Obst und Gemüse allein.

Genau diese Ambivalenz trug ihm bei feingeistigen Landsleuten Kritik ein. Er sei ein Salon-Sozialist, hieß es. Da jongliere einer mit dem Ruhm des Fußball-Anarchos, begebe sich zugleich aber in die Abhängigkeit schnöder Verbands- oder TV-Bonzen, wenn es darum ging, als pensionierter Fußball-Lehrer irgendwo ein Zubrot zu verdienen.

Trainer Cesar Luis Menotti und Diego Maradona

Trainer Cesar Luis Menotti und Diego Armando Maradona picture-alliance / Sven Simon

Menotti war nun mal auch ein Lebemann, der auch im Alter durchaus manche Antrittsgage umgehend für Gaumenfreuden ausgab. Das Image des coolen Machos hatte er einst geradezu gepflegt, Trainingseinheiten mit nacktem Oberkörper und heruntergelassenen Stutzen geleitet, die wehende Mähne oft durch ein Halstuch zum Piratenlook gerafft.

WM-Duell der Kettenraucher, zwei Geburtsdaten und die Handschlag-Frage

Und erst die Zigarette: Cooler wirkte auch ein Che Guevara mit Zigarre kaum, ebenfalls in Rosario geboren der Revolutionär, nur zehn Jahre älter. Apropos Alter: Menottis Geburtsdatum 5. November 1938 war nur das eingetragene, zur Welt gekommen war er schon am 22. Oktober, es hatte dann einfach zwei Wochen gedauert, bis der Vater ihn beim Standesamt hatte eintragen lassen.

WM-Finale 1978

Mit knapp 40 hatte der Kettenraucher Menotti 1978 im WM-Finale mit Ernst Happel dann um die Wette gequalmt. Besiegt wurden im Endspiel der Diktator-WM zwar die von dem Österreicher trainierten Niederlande, doch Menotti donnerte danach: "Meine Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt."

Die Legende vom Handschlag aber, den er Diktator Videla bei der Pokal-Übergabe verweigert haben soll? Wenn ja, ging der Akt ziviler Rebellion im Konfetti-Regen unter. Menotti sprach eloquent über seine Verachtung für die Militärs, ein "Handschlag verweigert", hörte man aber auch im ruhigen Gespräch nie von ihm. Denn es ist ja belegt: Beim offiziellen Empfang durch den Diktator vor WM-Start war der Nationaltrainer Menotti dabei gewesen.

Verachtung für die Söldner des Punktgewinns

Seine Theorie vom linken und rechten Fußball eroberte indes nach diesen bleiernen Zeiten die Welt: Beim linken Fußball ging es Menotti um die Spielintelligenz. Der Weg sei das Ziel und führe im Bestfall zum Sieg, so werde Fußball ein Fest. Es ist Menottis Gegenkonzept zum rechten Fußball der Resultate, wo der Zweck die Mittel heilige, der unterstelle, Fußball sei Kampf, es gehe um Opfer. Menotti verachtete sie, diese Söldner des Punktgewinns.

Cesar Luis Menotti

Ohne ging es fast nie: Cesar Luis Menotti mit Zigarette auf der Trainerbank. picture-alliance / Sven Simon

Nach dem WM-Sieg 1978 kam nicht mehr viel, gemessen an Titeln nur ein läppischer Pokalsieg mit dem FC Barcelona 1983. Menotti lebte von seinem legendären Ruhm, selbst Pep Guardiola ging einst bei Menotti in Taktik-Klausur. Der hatte 1973 den kleinen Klub Huracan zum Meister gecoacht, dabei mit dominant-offensivem Stil Argentiniens Fußball revolutioniert. Der Lorbeer brachte ihm den Job als Nationaltrainer ein. Nach dem Ausscheiden als Titelverteidiger 1982 ging er zu Barca, irgendwann nach Mexiko, Weltmeister Jürgen Klinsmann folgte ihm 1997 gar zu Sampdoria Genua - der Respekt war gegenseitig.

Maradona debütiert unter Menotti mit 16

Deutschland hatte es ihm ohnehin angetan: Musik, Philosophie, Literatur - und eben die Natur. Beim Anblick deutscher Wälder strahlte Menotti kaum weniger, als wenn er von Franz Beckenbauers Spielkunst schwärmte oder der Wolfgang Overaths oder Günter Netzers.

"Die Inspiration ist ein Engel, der über dem Platz schwebt und hofft, dass er sich in einem Spieler niederlassen kann", dichtete er gar. Noch zuletzt zeigte das Profilbild Menottis, der das Rauchen schon vor Jahren aufgegeben hatte, bei Whattsapp oft Pelé, mit dem er einst beim FC Santos als Profi in einer Mannschaft gespielt hatte.

Menotti war der Größte. Er hat mich 78 nicht nominiert, aber ich habe ihm weiter zugehört, habe ihn respektiert, seine Ratschläge angenommen. Er war der beste Trainer, den ich hatte.

Diego Armando Maradona

Diego Armando Maradona, den Menotti 1977 mit 16 in der Nationalelf hatte debütieren lassen, dann aber nicht in den WM-Kader von 1978 berief, sagte einmal: "Menotti war der Größte. Er hat mich 78 nicht nominiert, aber ich habe ihm weiter zugehört, habe ihn respektiert, seine Ratschläge angenommen. Er war der beste Trainer, den ich hatte."

Nun ist Cesar Luis Menotti, der 2009 für sein Lebenswerk den vom kicker und der Akademie für Fußball und Kultur der Stadt Nürnberg verliehenen Walther-Bensemann-Preis erhalten hat, im Alter von 85 Jahren in seiner Heimat gestorben.

Beckenbauer war der Erste: Alle Träger des Bensemann-Preises